FB-Pixel Skip to main content

Wie unsere wertenden Dialoge Beziehungen vergiften können

Bleib mal stehen.
Schau dich um.
Halte inne.

Wie oft passiert es dir, dass dich Kleinigkeiten im Alltag richtig aus dem Gleichgewicht bringen? Es ist dieser Nachbar, der wieder mal die Mülltonne so abgestellt hat, dass keiner mehr durchkommt. Oder der Autofahrer, der einfach macht, was er will. Und vielleicht ist es auch nur jemand an der Supermarktkasse, der scheinbar ewig sein Kleingeld sortiert, während hinter ihm alle ungeduldig warten. Wertungen in Beziehungen führen zu vielerlei Unmut, Frustration und Ärger.

Klingelt da was in dir?
Solche Momente sind nicht nur nervig – sie setzen im Hintergrund einen Prozess in Gang, der weitreichender ist, als wir oft glauben.

Der innere Richter meldet sich zu Wort

Was in diesen Situationen ganz automatisch passiert: Wir bewerten.
Wir kommentieren im Kopf, was der andere gerade „falsch“ macht. Wir erzählen uns selbst, wie rücksichtslos, ungeschickt oder vielleicht sogar dumm sich andere verhalten. Und mit jedem Gedanken wird das Gefühl dazu stärker. Und die Wertungen, führen zu einem anderen Verhalten in Beziehungen.

„So eine Rücksichtslosigkeit! Denkt der überhaupt mal an andere?“
„Immer diese Leute, die nie aufpassen…“
„Wieso kann man sich nicht einfach mal an Regeln halten?“

Es klingt erst mal harmlos – schließlich müssen wir ja irgendwie verarbeiten, was um uns herum geschieht. Doch das Problem ist: Je länger wir diesen Gedanken nachhängen, desto mehr laden wir innerlich auf. Die Situation schaukelt sich in unserem Kopf hoch.

Ich kenne das aus vielen Gesprächen in meiner Praxis. Da kommt jemand zu mir und erzählt von einer ganz banalen Alltagssituation. Und plötzlich, nach ein paar Minuten, wird klar: Das Thema lässt ihn oder sie gar nicht mehr los. Die Wertungen werden größer. Der Ärger bleibt. Die Bewertung nimmt immer mehr Raum ein. Der Ärger steigert sich.

Ein Klient berichtete mir mal von seinem täglichen Weg zur Arbeit. „Jeden Morgen“, sagte er, „regt mich dieser eine Radfahrer auf, der auf dem Gehweg fährt. Ich merke, wie ich schon beim Aufstehen darüber nachdenke, ob ich ihm heute wieder begegne.“
Sein Puls steigt, noch bevor er überhaupt aus dem Haus geht.

Nachdenkliche Person in einem Museum – Symbol für Bewertungen und innere Dialoge im Alltag

Wertungen in Beziehungen wirken als Stressauslöser

Was steckt psychologisch dahinter?

Wir alle haben ein Bedürfnis nach Ordnung, Fairness, Sicherheit und einem respektvollen Miteinander. Wenn jemand diese – oft unausgesprochenen – Regeln verletzt, fühlen wir uns angegriffen.
Unser Gehirn, das evolutionär auf Bedrohungen ausgerichtet ist, springt sofort an. Es unterscheidet nicht, ob wirklich Gefahr droht oder „nur“ jemand unsere Komfortzone stört.

Doch die Wertungen in Beziehungen haben auch konsequenzen auf Körperebene ; Stresshormone werden ausgeschüttet. Das vegetative Nervensystem schaltet auf Alarm:
Hände werden feucht,
das Herz schlägt schneller,
der Blutdruck steigt.
Und während im Außen oft längst wieder Ruhe eingekehrt ist, arbeitet es in uns weiter.

Vielleicht kennst du das:
Du hast am Nachmittag ein unschönes Erlebnis gehabt – und abends kommt dein Partner mit einer Frage auf dich zu. Eigentlich ganz freundlich gemeint. Aber weil du innerlich noch brodelst, hörst du nur Kritik oder Vorwurf.
Ein falsches Wort – und schon bricht ein Streit vom Zaun.

In der Fachsprache spricht man vom Beziehungs-Ohr (Friedemann Schulz von Thun), durch das wir Worte besonders sensibel empfangen. Wenn wir im Stress sind, wird dieses Ohr noch empfindlicher. Wir hören dann eher Angriffe als echte Anliegen.


Praxisfall: Die innere Wertung als Saboteur in Beziehungen

Ein Beispiel aus meinem Praxisalltag:
Vor einiger Zeit saß ein Paar bei mir. Beide seit über zehn Jahren zusammen. Die Stimmung war angespannt.
Sie: „Er kommt ständig zu spät zum Abendessen, ich kann mich überhaupt nicht auf ihn verlassen.“
Er: „Sie motzt immer sofort rum, dabei habe ich einfach nur viel um die Ohren.“

Als wir den Faden der letzten Woche gemeinsam entwirrten, zeigte sich:
Ein einzelner Vorfall – „er kam nach einem anstrengenden Tag 30 Minuten zu spät“ – hatte bei ihr einen inneren Monolog ausgelöst.
Warum schafft er es nie, pünktlich zu sein? Bin ich ihm nicht wichtig? Er denkt immer nur an sich…
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr wurde aus einer kleinen Enttäuschung ein Grundsatzproblem. Diese Wertungen führten zu einer starken Belastung in der Beziehung.
Ihm ging es ähnlich: Die Vorwürfe seiner Partnerin aktivierten seinen eigenen inneren Kritiker.
Nie reicht es. Egal, was ich mache, immer ist etwas falsch. Wofür strenge ich mich eigentlich an?

Aus Gedanken werden Gefühle – und aus Gefühlen werden Taten (oder eben: Rückzug, Streit, Distanz).

Die Spirale der Abwertung

Das Fatale daran:
Je mehr wir bewerten, desto mehr verändert sich unser Blick auf die andere Person.
Aus einer einmaligen Unachtsamkeit wird „typisch für ihn/sie“.
Aus einem kleinen Ärgernis wird eine Grundsatzfrage der Wertschätzung.

Wir schieben unsere Partner, Nachbarn, Kollegen innerlich in Schubladen.
Mit jedem inneren Dialog, mit jeder Bewertung rücken sie ein Stück weiter von uns weg.

Sozial-Psychologisch gesehen sprechen wir hier von einem abwertenden Vorurteil.
Unser Gehirn merkt sich negative Erlebnisse und Wertungen stärker als positive.
Das bedeutet: Selbst wenn zehn Dinge gut laufen, bleibt der eine Vorfall haften, der uns geärgert hat.


Wie kannst du den Kreislauf durchbrechen?

Vielleicht fragst du dich jetzt:
Was soll ich denn machen? Einfach alles hinnehmen?
Nein, es geht nicht darum, alles zu akzeptieren oder dich übergehen zu lassen. Aber es lohnt sich, den eigenen inneren Dialog zu bemerken und bewusst zu gestalten.

Hier ein paar Impulse aus meiner Arbeit:

1. Beobachte deine Bewertungen

Halte inne, wenn du merkst, dass dich etwas aufregt.
Stell dir die Frage:
Was erzähle ich mir gerade über die Situation?

Schreib deine wertenden Gedanken auf – manchmal hilft es, sie von außen zu betrachten.
Du wirst erstaunt sein, wie schnell du Muster erkennst.

2. Spüre, was du wirklich fühlst bevor Du wertest

Hinter dem Ärger steckt oft ein anderes Gefühl: Unsicherheit, Traurigkeit, Überforderung, vielleicht auch ein alter Schmerz.
Erlaube dir, dieses Gefühl wahrzunehmen.

Ein Klient sagte mal:
„Ich dachte immer, ich bin nur wütend. Aber eigentlich bin ich verletzt, wenn meine Frau nicht zuhört. Das tut weh.“

3. Mach den Perspektivwechsel

Stell dir vor, du wärst der andere Mensch in der Situation.
Was könnte ihn oder sie bewegt haben?
Vielleicht ist der Nachbar mit der Mülltonne einfach in Eile gewesen.
Vielleicht hat die Frau an der Kasse Angst, sich zu blamieren, wenn das Geld nicht reicht.

Natürlich ist das keine Entschuldigung für alles. Aber Mitgefühl hilft, die eigene Bewertung zu relativieren.

4. Such das Gespräch – ohne Angriff

Wenn dich etwas belastet, sprich es an.
Aber nicht mit dem Fingerzeig („Du hast schon wieder…!“), sondern mit Ich-Botschaften:

„Ich habe gemerkt, dass ich mich gestern geärgert habe, als du später gekommen bist. Es hat mir das Gefühl gegeben, nicht wichtig zu sein.“

So öffnest du die Tür für Verständnis – und nicht für neuen Streit.

5. Lass die Wertungen einfach mal los

Manche Dinge sind es einfach nicht wert, dass du sie mit dir herumschleppst.
Frag dich:
Will ich das jetzt wirklich den ganzen Tag mitnehmen?

Manchmal hilft ein kurzer Spaziergang, ein bewusstes Ausatmen oder ein freundlicher Gedanke („Vielleicht hatte der andere einfach einen schlechten Tag…“).

Mehrere Menschen stehen beieinander. Wertende und skeptische Blicken gehen in eine Richtung. Wertungen in der Beziehung stören die Emotionale Bindung.

Was passiert in Beziehungen, wenn du deine Wertungen änderst?

Das klingt jetzt vielleicht alles sehr einfach – ist es aber in der Praxis oft gar nicht.
Wir sind Gewohnheitstiere. Und Bewertungen laufen unbewusst ab.

Aber ich erlebe immer wieder, wie sich Beziehungen verändern, wenn Menschen ihren Fokus verschieben.

Ein Paar, mit dem ich lange gearbeitet habe, hatte ständig Streit wegen Kleinigkeiten.
Eines Tages haben sie beschlossen, sich gegenseitig jede Woche drei Dinge zu sagen, die sie am anderen schätzen.
Nach wenigen Wochen erzählten sie: „Wir merken, dass wir uns wieder anders sehen. Die Kritik ist weniger geworden, wir können wieder miteinander lachen.“

Der Schlüssel lag nicht darin, weniger Fehler zu machen. Sondern mehr das Gute zu sehen und zu benennen.

Fazit: Wertungen sind menschlich – aber sie sind gestaltbar

Du musst nicht perfekt sein.
Du darfst dich ärgern, traurig sein, enttäuscht reagieren.
Aber du hast auch die Möglichkeit, aus der Bewertungsspirale auszusteigen.

Stell dir vor, wie viel leichter sich dein Alltag anfühlen kann, wenn du dich nicht mehr stundenlang im inneren Dialog verlierst.

Stell dir die Frage:
Was macht das mit mir, wenn ich so viel bewerte? Was könnte sich verändern, wenn ich ein wenig mehr Mitgefühl, auch mit mir selbst, übe?

Vielleicht ist es an der Zeit, heute einen kleinen Schritt zu wagen.
Halte inne.
Reflektiere.
Und gib dir selbst – und anderen – die Chance, neu zu sehen.


Impulse zum Mitnehmen:

  • Erkenne, wann du bewertest
  • Spüre, was dich wirklich bewegt
  • Versuche, die Perspektive zu wechseln
  • Sprich offen, statt anzuklagen
  • Und: Lass auch mal los.

Jede Bewertung ist ein Angebot, neu hinzuschauen – bei dir selbst und bei anderen.

Du bist nicht allein auf diesem Weg.
Ich begleite dich gerne ein Stück.


Wie gehst Du mit Wertungen in deinen Beziehungen um? Hinterlasse gerne einen Kommentar. Weiter unten findest du das Kommentarformular. Ich freue mich drauf.


Leave a Reply